Tanya V. Abelson, Philipp Gufler, Jordan/Martin Hell, François Pisapia & Pauli Scharlach
28.8. - 18.9.2022
„Nein, was den Abend wirklich zu einem Abend von anhaltender Bedeutung und Bestürzung machte, war etwas, das sie auf der Damentoilette beobachtete. Es war unübersehbar & doch völlig unvorstellbar. Eine Frau beugte sich hinunter und küsste eine andere Frau, die auf einer Chaiselongue lag.”1
An den glänzenden Abenden des Berlins der Jahrhundertwende traf Victoria zu Bentheim (1887–1961) auf eine andere Welt mit Lebensweisen, die sie zuvor für unmöglich gehalten hatte. Eine behütete Prinzessin verwandelte sich in eine Architekturstudentin, deren normativen gesellschaftlichen Vorstellungen zerbrachen – und zu denen sie vorerst nicht zurückschaute.
Die Briefe von Victoria wurden verbrannt, was darauf stand, werden wir nie erfahren. Aber es wird sich von ihnen erzählt, von dem Leben das Victoria führte. Die Briefe zeugten von ihren Ideen, Zweifeln und ihrer Selbstsuche. Zu der Zeit in der Victoria lebte war es üblich, dass die Autor*innen ihre eigenen Briefe von den Adressat*innen zurück forderten oder einen Durchschrieb behielten. Es ist wahrscheinlich, dass Victoria sämtliche ihrer Dialoge bis kurz vor ihrem Tod in ihrem Besitz hielt – die Briefe eigenhändig verbrannte oder deren Verbrennung beauftragte. Die schriftlichen Beweise für ihr Leben wurden zu Asche – die Geradlinigkeit der Geschichtsschreibung ihrer aristokratischen Familie blieb erhalten. Über ihr Verlangen, ihre Geheimnisse und rebellischen Gedanken kann heute nur spekuliert werden.
Als eine der ersten Frauen in Deutschland studierte Victoria zu Bentheim von 1913 bis 1919 an der Königlich Technischen Hochschule zu Berlin Architektur. Sie lernte mit Materialien umzugehen, Formen auszuprobieren und Kräfteverhältnisse einzuschätzen. Sie wurde darin ausgebildet, das Schaffen von Bauästhetik in einer bis heute männlich dominierten Architekturwelt für sich zu beanspruchen. Ihre Selbstbestimmung traf auf einen Gestaltungswillen, der Bauwerke schuf, die bis heute erhalten sind. Heute sprechen ihre Gebäude von einem damaligen Geschichtsrevisionismus: Victoria baute ein Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs in einem Stil, der Größe ausstrahlen sollte. Die von ihr erbauten Häuser sowie eine Mühle zeugen vom Romantisieren einer Vergangenheit, welche schon damals nicht mehr existent war. Das Bild einer aristokratischen Frau, die im Übergang zur Moderne riesige historisierende Bauwerke schuf, wirkt genial und gespenstisch zugleich. Einerseits, weil sie dies als eine der ersten Frauen tat und sie andererseits augenscheinlich alten Geistern nachhing.
In der Geschichtsschreibung ist von Victoria als eine der ersten Architektinnen Deutschlands die Rede. Als Retterin jüdischer Menschen während des Nationalsozialismus ging sie in die Jahrbücher der Geschichte ein. Erforscht ist, dass sie zwei Jüdinnen während des Nationalsozialismus versteckte, nachdem sie aus der NSDAP austrat. Doch die Dokumente für Victorias eigenes Begehren– ihr Verlangen jenseits heterosexueller Normen fehlt und mit ihnen die beschriebene Vorfreude, die Sehnsucht und ihre Unabhängigkeit, die sie festhielt und die dann nur für einen flüchtigen Moment in der Geschichte existierten. Wir werden nie erfahren, was sie auf diesen Seiten zu Papier brachte – schilderte, beichtete und bezeugte.
Kuratiert von Paula Kommoss und Muriel Meyer
Kunstverein Grafschaft Bentheim
Hauptstraße 37
49828 Neuenhaus
Öffnungszeiten
Do 15-20 Uhr
Fr - So 15-18 Uhr
sowie nach Vereinbarung
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